
Beginn des Erinnerns.
Datum 07.06.2004 n. Chr.,
(6009 Jahre Geschichte der Menschheit)
An einem Spätsommernachmittag saß ein alter, überaus wertvoll gekleideter Mann auf einer von zwei Bänken am Ufer
der Havel.
Gedankenversunken ruhten seine gepflegten, leicht faltigen Hände auf dem goldenen Knopf des Spazierstocks.
Seine dunklen Augen, in welchen sich die ganzen verlorenen Jahre seines Lebens gerettet hatten und welche
sonderbar von den schneeweißen Haaren abstachen, zeigten einerseits neben dem Träumen ein waches Bestehen
und weilten einmal auf den glitzernden Wellen des Wassers, um dann auf den großen Höckerschwan zu schwenken.
Die zwei Bänke standen im Abstand von zwei Metern oben auf einem Rondell, welches durch einen fußhohen Steinwall
zu dem abfallenden Wiesenrand und vom Wasser getrennt war.
Der Schwan saß am Rand des Steinwalls, genau in der Mittellinie beider Bänke.
Sein zierliches schneeweißes Weibchen, in reinem, hellstem überirdischem weißem Glanz, schwamm unten auf
den Wellen mit fünf dunkel-grauen Küken, deren Schnabelfarbe dunkel-lila schimmerten.
Während die Mutter dem Nachwuchs die Reinigung und die Nahrungssuche beibrachte, hatte der Vater die Aufgabe,
sich zu putzen – und seine Umgebung als Wache zu beobachten. Eine Gruppe von sechs Dohlen, auf der Suche nach
Körnern, hüpften zu nahe an die Brust des Schwans, sofort schoss sein gelber Schnabel mit dem schwarzen
Tastrezeptor, gleich einer Lanze, nach vorne – dabei den Schnabel weit geöffnet.
Pfeilschnell flogen die sozial gesonnen Dohlen davon.
Ähnlich erging das einem Ehepaar, das auf dem Weg hinter den Bänken spazierging, sich ausruhen und den
Anblick der Havel mit dem Bootsverkehr bewundern wollten!
Sie grüßten freundlich den Alten, wollten sich auf die freie Bank setzen - sofort stand der Schwan auf,
die Flügel ausgebreitet, den Schnabel geöffnet ging er auf die beiden Menschen zu. Diese flüchtete entsetzt
hinter die Banklehne, starrten den angriffslustigen Schwan an und schlenderten dann empört davon.
Die Frage, dass der Alte dort friedlich sitzen durfte, stand unbeantwortet in ihren Augen.
Der Schwan faltete seine Flügel zusammen, watschelte zu seinem Sitzplatz, betrachte kurz aus seinen
schwarzen Augen den Alten, ließ sich nieder und nahm das Putzen seines Gefieders mit dem Schnabel wieder auf!
Unten im braun-grünem Wasser schwamm die Familie. Die Schwänin sah mit schräggehaltenem Kopf zu ihrem Mann empor.
Die Küken waren damit beschäftigt, einen nahen Platz am Ufer zu ergattern.
Gelassen durchsuchte der Schwan sein Gefieder, zog eine Feder heraus, sah kurz zu seiner Familie hinunter,
die wie eine Zusage wieder davonschwamm.
»Du stehst noch im vollen Saft. So trotzte ich auch einmal. Nun bin ich alt geworden und diese Tage gefallen
mir nicht«, sagte mit wohltönender leiser Stimme der Alte und sah abgeklärt den Vogel an.
Der streckte seinen langen Hals und als hätte er den Alten verstanden, fixierten seine schwarzen Augen den
Menschen. Der Blick dauerte lange, mindestens zwei Minuten.
»Ich kann deinen Blick nicht deuten«, verhaltend die leise Stimme des Alten, der Björn Wilk hieß.
»Ich denke, es verbindet uns manches, dabei zählst du wenige Jahre. Nach meinem Empfinden fühle ich mich,
als wäre ich 70 Jahre alt – aber wenn man mich durchsägen würde – könnte man 94 Jahresringe zählen.«
Über dieser Metapher musste Björn Wilk schmunzeln.
Dann stand Magda vor seinem inneren Auge.
Magda, seine geliebte Frau.
Sie liebte Schwäne, malte sie, studierte intensiv deren Leben und füllte mit dieser Liebhaberei ihre freie
Zeit aus, in der er seiner Aufgabe nachging.
Magda, Bachelor of Science, wie man heute zu einem akademischen Abschluss sagt, hatte ein sanftes Wesen,
hochintelligent, zanken konnte sie nicht. Sie hatte ein schwaches Herz, schluckte regelmäßig Tabletten.
Heute, genau vor zehn Jahren kam sie vom Arztbesuch nach Hause. Björn Wilk half ihr den nassen Mantel ab
zulegen, zog ihr die schmuddeligen Schuhe aus und begleitete sie ins Schlafzimmer.
Sie war seltsam blass.
»Dir geht es gar nicht gut!«
»Nein!«
»Und Doktor Kumpf?«<
»Wusste nicht weiter!«
Sie legte sich angezogen auf das Bett, Björns setzte sich neben sie, nahm ihre linke Hand, eine Ahnung
presste sein Herz zusam
men - und nach drei Minuten flüsterte sie: »Ich danke dir meinem Geliebten, ich danke dir meinem großen
Gott für das gemeinsame Leben, für das gesamte Leben. Es war voll von lebendigem Atmen, angefüllt mit Freude
und Liebe. – Nun muss ich Björn alleine lassen, lieber Gott sei weiterhin bei ihm, nimm mich bitte zu dir,
ich bin ja so müde.«
Björn fühlte die schwach werdende Hand, sie kühlte ab, ein warmer Blick, ein Sehen in die Unendlichkeit,
dann schlossen sich ihre Augen, die Hand erschlaffte und Gott tat es - erhörte ihren Wunsch.
Der Vogel senkte seinen Schnabel, zog den langen Hals ein und suchte auf dem grün-braunen Wasser seine Familie.
Auch Björn Wilk senkte seinen Blick, sah auf die Hände, die noch auf dem Knopf ruhten, blickte weit in die
Vergangenheit und seine vollen Lippen rezitierten aus der Erinnerung: »Und doch war Peking, diese kaiserliche
Stadt, eine der letzten Zufluchtsstätten des Unbekannten und Wunderbaren auf Erden, eins der letzten Bollwerke
uralter Kultur, unverständlich für uns und fast ein Märchen.«
Bei diesen bewegenden Gedanken stand das Bild des französischen Marineoffiziers und Schriftstellers
Pierre Loti vor ihm!
Pierre Loti war Mitglied des französischen Expeditionskorps zur Niederschlagung des Boxeraufstandes in China.
Er war kein säbelrasselnder Kriegsberichterstatter, sondern vielmehr ein poetischer Geist dieser Zeit – die heute
fast ausgestorben sind.
Björn Wilk erhob sich, nickte dem Schwan kameradschaftlich zu und ging Richtung Fähranleger, um nach Haus zu gehen.
***
In Schiffbek war es kurz nach zehn Uhr morgens, und der Fußweg der zum Schiffbeker Weg führte, war mit
Sonnenlicht und abgefallenem Lauf gesprenkelt.
Die beiden schlaksigen halbwüchsigen Geschwister, im Alter von 13 und 17 Jahren, die leicht anarchistisch
wirkten, obwohl ihre Kleidung den gut betuchten Mittelstand ausdrückte, schlichen zwischen Gärten und kleinen
Wiesenstücken den ungepflasterten Weg lang.
Dörte Wilk, die Ältere, hielt in der rechten Hand einen Leinenbeutel, in dem zwei Brote lagen, die sie von
Tante Anke holten. Die Schwester ihrer Mutter hatte einen ganzen Sack Mehl auf dem Schwarzmarkt erworben,
Brot gebacken und dafür einen Wildschweinschulter bekommen.
Björn Wilk hielt eine gerollte Zeitung unter der linken Achsel, in der eine Speckseite fettete. Seit Tagen
regierte Schmalhans in ihrem Haus, heute war die Hoffnung groß, Schweinebraten, frisch gebackenes Brot mit
ausgelassenem Speck zu essen. – Ja wieder einmal satt zu werden.
Gegenüber dem Vortag war es ruhig im Dorf. Die Kommunisten hatten die Macht übernommen, den
Oberlandjäger Kunstreich und drei weiter Polizisten erschossen, deren Gewehre erbeutet und gedroht
alle Gegenrevolutionäre zu erschießen, die gegen die Befreiung der Arbeiterbrüder waren.
Viele der Arbeiter im Dorf standen Seite an Seite der Revolutionäre und verpflegten sie.
Es bestand die Gefahr, dass sie ihre Brote und die Speckseite abgeben mussten, das wollten sie nicht.
Dafür hatte sie ihr Vater ausgewählt.
»Euch Halbwüchsigen werden die roten Banditen keine Gewalt antun«, drückte Vater seine Gedanken aus und
schickte sie los.
An der Ecke zum Schiffbeker Weg verharrten die Geschwister und sondierten mit wachen Augen die Straße.
Oben rechts standen zwei Posten, der eine mit einem geschulterten Gewehr, der andere mit einer Pistole
in der Hand.
Links stand ein Polizeipanzerwagen. Aus der Kuppel ragte ein Kopf, der sich ab und zu drehte und die
Straße auf und ab beobachtete.
»Wollen wir rennen oder einfach über die Straße gehen?«, fragte Dörte.
»Kontrollieren werden die uns auf jeden Fall!«
Dörte nickte, kaute auf der Oberlippe und sagte: »Also, rennen. – Die beiden Posten schwätzen gerade.«
»Dann los«, antwortete Björn und rannte los. Dörte hinter ihm her, schräg über den Schiffbeker Weg - als
die Posten brüllten, tauchten sie in einem engen Gartenweg unter, der zum Schiffbeker Moor führte.
Sie hörten einzelne Schüsse, Gebrüll, das plötzlich von Motorgeräuschen übertönt wurde. Als sie nach
links den Drosselbartweg zu ihrer Villa einschlugen, knatterte die Luft von dem Knallen vieler Gewehre
und das Blaffen eines Panzerautomobils.
Zu Hause angekommen trafen sie ihre Familie stehend an den Fenstern an, alle gespannt, auf ihren erhofften
Durchbruch und was der plötzliche Kampflärm bringen mag.
Stunden später erfuhren sie, das Dorf wurde von größeren Polizeikräften, ausgerüstet mit Panzerwagen,
unterstützt von einem Landungskorps Marinesoldaten des Kreuzers »Hamburg«, nach heftigen Feuergefechten,
mit mehreren Toten, von der Räte-Republik befreit.
Die restlichen Aufständischen türmten Richtung Billwerder und Bergedorf.
Es folgten Verhaftungen und Durchsuchungen der Wohnungen, dabei ging die Polizei ausgesprochen hart
vor - der Tod der erschossenen Ortspolizisten, auch noch auf dem Friedhof, gebar die Brutalität.
Sie hatten auch eine Einquartierung!
Von der »Hamburg« wurde ihnen der Fähnrich zur See Georg Flaig zugewiesen. Ein feiner lustiger junger Mann.
Die ganze Familie empfand ihn nicht als Fremdling.
Am Morgen ging Georg Flaig zu seinem Posten, Dörte zog ihre Regenjacke über und fragte Björn: »Gehst du mit?«
»Wohin?«
»Nachsehen, was im Ort passiert ist!«
»Könnte gefährlich werden!«
»Werden Winnetou spielen.«
Dörte, mit einer lebhaften Fantasie begabt, grinste abenteuerfreudig.
Ihr Bruder eher ruhig, verschlang Bücher aller Spezies, saß lieber in einem Sessel, war aber ihr bester
Kumpel bei jeder ihrer Verrücktheiten.
Björn befreite seine Jacke vom Haken der Garderobe, zog sie über und folgte seiner immer rastlosen
Schwester auf die Straße.
Gespannt schlichen sie durch die schmalen Heckenpfade, zwischen den Gärten, zur Durchgangsstraße.
An der Ecke blieben sie geduckt stehen. Ein paar Barrikaden sperrten die Straße, Polizisten kontrollierten
Fußgänger, an einem offenen Feuer an der Straße saßen Matrosen und lärmten lustig.
»Komm, wir gehen nach links zum Markplatz«, sagte Dörte.
»Und wenn die uns Anhalten?«
»Tun wir dumm, sind ja Kinder.«
Sie schlenderten die Straße hinunter, standen vor der Barrikade und sollten ihre Ausweise zeigen, die hatten sie nicht dabei.