
Chingachgook
Einleitung
Am einfachsten wäre es gewesen, ein Buch über:
Wie war es wirklich,
sowie ein zweites Buch:
Liebe zweier Menschen im Wirrwarr der Zeiträume
zu schreiben.
Das vorliegende Buch ist weder das eine noch das andere. Es ist ein Abenteuer, das beide Kriterien miteinander verbindet.
Das Risiko ist, dass der Leser nur an einem Thema teilnimmt und umfassend enttäuscht ist.
Die gesamte Episode ist ein Roman, der verzwickte, unterschlagene Tatsachen, gepaart mit antiker Mystik – geklärt,
unerklärlich – an die Leinwand des Lebens wirft und deren offenbarte Nachforschungen zu fatalen Auftritten der neu
geschriebenen Menschheitsgeschichte führen würde. Hohe Berge des Wissens würden als Hügel des Besserwissens degradiert,
Religionen in Erklärungsnot kommen.
Man könnte auch gewagt sagen, es ist eine bestrickte Sammlung ähnlich der Edda, der Bibel und/oder alter Sagen.
Worauf fußt dieser Roman?
Einfach!
Wenn ein Kind oder ein bequemer Mensch gefragt würde: Ist der Himmel blau, ist die Antwort - Was soll das? – Ja, siehst
du doch! – und ich sage nein, der ist nicht blau; du erliegst einer Täuschung.
So wird er je nach Temperament entrüstet antworten.
Es ist eine schnelle Reaktion unseres Denkens. Was ich sehe ist wahr, was mir ein Vordenker mit Diplom erklärt, stimmt.
Denn es muss stimmen, denn es sagen ja viele Diplome. Aber die vielen Schulterschlüsse in der Geschichte hatten schon manchen
gesteinigt oder verbrennen lassen.
Graben wir ungelöste, unwirklich scheinende Themen aus, nachdem wir eins und eins zusammenzählten und kein Ergebnis,
keinen Schluss, nur Überreste fanden, gehen wir auf den Weg der Archäologen der Denkkraft und des Mutes – und stellen
uns gegen die Masse der dominierenden Fachwelt.
Ist es dann traurig oder vernichtend: Wenn wir zu einem Ergebnis kommen und können es mit keinem, oder nur wenigen teilen;
sind wir trotzdem in unserer Einsamkeit gelassen und unbeugsam?
Denn unser erarbeitets Vermögen bleibt ein Schatz in unserem Herzen. Als Bollwerk im Geist fest verwurzelt, führt dazu,
dass wir uns wissend von manchem Bericht oder in einem Gespräch gelangweilt abwenden - denn die Dunkelheit erschreckt uns.
»Großer Geist, schenke mit Weisheit,
dass ich nicht über Menschen urteile,
bevor ich nicht vier Monde lang in
seinen Mokassins gewandert bin.«
Weisheit der Prärieindianer (Weisheit der Indigene?)
(Indigene heißt übersetzt Einheimische.
Sind die zugewanderten, integrierten Menschen
nicht auch Einheimische? Kommen aus geachteten Sippen?)
In der Nacht, vor der Geburt Wolframs, plagte Großmutter Frieda einen Traum. In deren Metapher sie eine gläserne Treppe sah,
die den Erdboden nicht berührte, zu den Wolken hinaufreichte und sich die Tritte in einem leuchtenden Weiß auflösten.
Auf den Stufen stiegen makellose Wesen empor, von Lichtgestalten geleitet. Am Beginn der Treppe, vor der ersten Stufe stand
ein junger Mann, der freudig den aufsteigenden und enteilenden Geschöpfen nachblickte.
»Sie haben ihn einfach auf der Erde zurückgelassen, als sie verklärt hinaufgingen, ganz hoch, weit über die Sphäre der Sterne
hinaus«, klagte eine hohe, empörte Stimme.
»Nein, nicht einfach! Er hat eine Bestimmung, ein Bild Gâwâns, eine zukünftige Gestalt! Der nicht gerne kämpft, sich in der
Heilkunst auskennt, tiefes Wissen braucht, wie die tägliche Nahrung. So wie Gâwâns seine Größe zeigte, indem er sich neigen
kann und hochherzig im Selbstbewusstsein dient«, widersprach eine andere tiefe Stimme, die für Oma sehr weit und unerreichbar klang.
»Diese abstrakte Illusion hatte ich in der Nacht«, erzählte Großmutter ihren Traum, während des Frühstücks der Familie.
Man sah es ihrem Gesicht an, der Traum hatte sie erschüttert.
Um den ovalen Tisch saßen sie, fertig mit dem Frühstück und in der Erwartung der Geburt eines Knaben, der Reinhard heißen sollte.
Die Stimmung in der Runde war je nach Alter und Lebenserfahrung aufregend, aber nicht gleich.
»Hattest du von Flegetanis im Heiligen Gral gelesen?«, ermittelte mit spöttischem Ton Tante Erna. Mutter vom vier Kindern.
»Nein! Ich habe diese Erzählung noch nie angefasst. Ist für mich zu Abstrakt.«
Oma ging nicht auf das dünne Eis, blickte ihre Nichte nur kurz und streng an, drehte sich zu ihrem Sohn und sagte: »Georg,
der junge Mann sah dir aus dem Gesicht geschnitten ähnlich.«
»So!«
»Ist es eine Wahrsagung?«, fragte Martha, und legte ihre Hände auf den prallen Bauch.
»Dann müsste er Wolfram heißen«, erklärte der Vater. Der grollende Ton seiner Stimme klang wie eine Gesetzgebung.
»Oder Flegetanis, nach dem arabischen Astronomen«, sinniert Onkel Bruno.
»Quatsch. Wenn wir nach Großmutters Traum gehen, dann nur Wolfram«, schnauzte Opa.
Martha streckte sich, die Wehen kamen immer in kürzeren Abständen.
»Es ist so weit«, stellte die Großmutter mit wissendem Blick fest.
»Ja, ächzte«, Martha. »Taufen wir ihn auf Wolfram.«
Die Aufregung kochte hoch, keine Zeit für Diskussionen, alle Köpfe nickten, keiner fand zu dem allgemeinen Sinneswandel eine Erklärung.
So wurde aus dem geplanten Reinhard Rode, Wolfram Rode.
Ab seinem sechsten Lebensjahr sammelte und las Wolfram alle Bücher, die er verstand - oder versuchte die Sätze zu verstehen.
Seine wachsenden Fragen, ein ganzer Sack voll, erklärte ihm geduldig sein Onkel Peter.
Mit zehn Jahren wollte Wolfram Lokomotivführer werden. Bei seinem elften Geburtstag Flieger und nach den
bestaunten Bildern von Astronauten, die im Mondstaub hüpften, Astronaut.
Sein Vater, ein stiller Mann, spärlich seine Worte, antwortete auf seine Frage, ob Astronaut der richtige
Beruf für ihn wäre: »Ein gewaltiger Sprung vom Lokführer zum Astronauten. Bestehe dein Abitur, dann sehen wir weiter.«
Für Wolfram eine Absage seiner Idee, er hatte eine Unterstützung erwartet, bekam sie weder von der Mutter noch von seiner Schwester.
Tief bedrückte das Wolfram nicht!
Er war nicht ratsuchend! Er wollte für seine Wahl und Begeisterung nur eine unterstrichene Bekräftigung einheimsen.
Wer konnte ihm da zustimmen, vielleicht doch ungesehene Pfade zeigen?
Für Wolfram klar, Onkel Peter!
Wolfram schwang sich auf sein Fahrrad und strampelte die sieben Kilometer zu dem kleinen Haus am Ortsausgang.
Ein Schmuckstück in der baugleichen Umgebung, der Reihen- und Zweifamilienhäuser, den geistesverwandten Vorgärten,
aus denen Gartenzwerge finster, liebevoll oder dümmlich grienten.
Nur bei Onkel Peter nicht!
Statt Zwerge begrüßten zwei Fächerpalmen den Besucher. Ein Apfelbaum, mannshoch, von Onkel als ein Art Bonsai beschnitten,
der im September voller Äpfel lachte, Rosenbäumchen, die rot, gelb und weiß leuchteten, beendeten das Spalier.
Onkel Peter war für ihn ein rechtschaffender Mann, ein Vorbild durch und durch, hoch stand er bei Wolfram auf einem Sockel!
Die Vorfahren von Onkel Peter stammten aus einer Hugenottenfamilie, die in Berlin Zuflucht fand und dann nach Hamburg zog.
Sein Vater, Johan Richard Rode, wurde Hamburger Bürger, sammelte Lehrwissen in einem Volontariat in England und avancierte
zum erfolgreicher Kaufmann, der seine Aktivitäten in den Südpazifik verlegte.
Auf den Inseln des Königreichs Samoa, seit 1900 Deutsche Kolonie, erwarb er Land, und konnte sich gegenüber der britischen,
australischen und amerikanischen Konkurrenz eine Vorrangstellung erarbeiten.
Sein Vermögen wuchs beachtlich. Auch der Neid seiner Konkurrenten, heute sagt man Mitbewerber.
1914 besetzten neuseeländische Truppen die Inseln!
Johan Richard Rode konnte mit seiner Frau Hilde auf einem holländischen Frachter der Gefangennahme entgehen und rettete einen
Teil seines Vermögens nach Deutschland.
1916 wurde Onkel Peter geboren und wuchs in Hamburg auf, bis sie nach Gießen verzogen und er dort seine Reifeprüfung abschloss.
Wie sein Vater ging er als Volontär nach England und steckte seine Nase in Politik und Journalismus.
Nebenher verwaltete er das Vermögen des Vaters, und konnte es vermehren.
Onkel Peter war ein schlaksiger großer Mann. Stets leicht nach vorne gebeugt, pendelten seine Arme vor ihm herunter so dass ein
Beobachter den Eindruck hatte, Onkel Peter wollte einen Gegenstand vom Boden aufheben.
Seine antiquierten Ansichten und Einstellungen gegenüber seiner Umwelt, konnte niemand beeinflussen oder gar ändern.
Seine geistige Gegnerschaft waren die anthroposophisch gesinnten Menschen. Seine Burg war: Der Mensch besteht aus Geist, Seele und Leib.
Der Geist ist der Lenker, das Haupt der Seele. Wenn das nicht so ist, übernimmt der Leib mit seinen niedrigen Bedürfnissen die Führung.
Damit ist der Mensch ein Krüppel.
Das war hart, fand Wolfram und meinte: »Demnach laufen viele Krüppel im Lande herum!«
»Kaum zu zählen!«
Wolfram widersprach seinem Onkel nicht!